FTS oder Routenzug?

FTS (Fahrerlose Transportsysteme) sind auch unter dem englischen Synonym AGV (automated guided vehicle) in aller Munde, wenn es um zukunftsweisende Logistik-Konzepte geht. Fahrerlos gilt vielfach als nächstes, höheres Ziel nach staplerlos. Im Lean Management sind jedoch Routenzüge das Mittel der Wahl. Wird der Routenzug nun durch FTS obsolet?

Illustration zum Wettrennen zwischen Routenzug und FTS
FTS vs. Routenzug – wer macht das Rennen?

Verkehrshistorisch liegt die Entwicklung im 20. Jahrhundert ausgehend von der Eisenbahn hin zum individuellen Transportmittel Automobil als Vergeich nahe. Lassen sich Parallelen ziehen? Und was bedeutet das für die Fabrik- und Logistikplanung?

Die Physik der Intralogistik

Beginnen wir mit der zweiten Fragestellung: Transporte und insbesondere ihre Intensitäten sind eine zentrale Aufwandsgröße im Fabrikbetrieb. In der Planung von Layouts versucht man daher schon immer, Quellen und Senken mit hohen Transportintensitäten möglichst dicht beisammen zu halten. Verantwortlich dafür ist die Annahme, dass Transportvolumina weglängenproportional zu Transportkosten führen. Energetisch gesehen, ist dem wohl auch im Wesentlichen zu folgen. Sind beispielsweise 2 Tonnen Material zu transportieren, wird es wohl mehr Energie kosten, sie über 2 km anstelle über 20 m zu fördern, zumindest wenn das gleiche Fahrzeug unterstellt wird.

Was bedeutet Transportintensität?

Lesen Sie hierzu den Blogbeitrag:

Materialflussanalyse in zwei Dimensionen

Die Nutzung von Transportmitteln wie FTS prägt sich in der Transportintensität aus.

An dieser Stelle gewinnt die Betrachtung an Komplexität. Denn physikalischer und wirtschaftlicher Aufwand sind bei Weitem nicht gleichwertig. Bewertet man Transporte mit Kosten, spielen in den Energiebedarf noch weitere Ressourcenkosten hinein. Dazu kommen koordinative Aufwände zur Steuerung des Transportsystems. Tendenziell wird man hierbei beobachten, dass größere Entfernungen in höheren Losgrößen überwunden werden. Damit sinkt die notwendige Anzahl an Transporten, Kapazität und Leistung der verwendeten Fahrzeuge muss gleichermaßen zunehmen. An unserem Beispiel des 2-Tonnen-Transports mag es wirtschaftlich vertretbar sein, diese Masse mit einer Gabelstapler- oder Routenzug-Fahrt über 500 Meter zu transportieren, während man es als unwirtschaftlich ansehen muss, 2 Tonnen Material händisch über 20 Meter zu tragen.

Damit erreichen wir die nächste Komplexitätsstufe, die Zeit. Wie oft wird welche Menge an der Senke benötigt? Ist es sinnvoll, 2 Tonnen Material in einem Zug zu verteilen oder kann diese Menge an den Senken gar nicht zum Lieferzeitpunkt verarbeitet werden? Entsteht also zusätzlicher Platzbedarf für Pufferflächen, Platz der bei häufigerer Versorgung in kleineren Losen nicht erforderlich wäre?

FTS & Co. – die Qual der Wahl

Schnell wird klar, dass durch die Wahl verschiedener logistischer Systeme Verstärkungs- und Aufhebungseffekte entstehen, die schwerlich von vorn herein umfänglich beachtet werden können. So wird jede Lösung Vor- und Nachteile offenbaren. Die notwendigen Mengen pro Zeiteinheit determinieren in jedem Fall die logistischen Notwendigkeiten. Bei einer Tendenz hin zu individuelleren Produkten scheinen kleinere Losgrößen die Folge. Die Entwicklung modularer Produkte wirkt dem wiederum entgegen. Denn solche Produkte beinhalten viele gleiche Vor- und Zwischenprodukte. Diese werden in größeren Losen benötigt und kontinuierlich produziert. So entsteht Rhythmik in der Produktion. Hochkapazitive, getaktet eingesetzte Logistikzüge sind dann von Vorteil. Routenzug-Systeme mit variablen Anhängern für verschiedenartige Ladungsträger erhöhen die Flexibiltät solcher Lösungen. Sind dagegen die Bedarfe kleiner und nicht zyklisch, sind kleinere Fahrzeuge mit individueller Route attraktiv. Der Einsatz fahrerloser Transportsysteme (FTS) ist in dem Fall eine Option.

Gehört Fahrerlosen Transportsystemen die Zukunft?

Da FTS-Lösungen noch nicht allzulang in relevanter Anwendungsbreite sind, wollen wir einen Blick auf mögliche Langzeiteffekte wagen. Hierzu soll als Parallele der Personen- und Güterverkehr außerhalb der Fabriken dienen. Als gedankliches Experiment sei eine Gleichsetzung des Automobils im öffentlichen Verkehr mit einem autonomen faherlosen Fahrzeug in der Produktion erlaubt.

Ein Blick zurück

Schaut man auf das öffentliche Verkehrsnetz zu Beginn des letzten Jahrhunderts, so war dies dominiert von der Eisenbahn auf der Langstrecke, dem Adäquat zum Routenzug in der Fabrik. Bahnhöfe waren die logistischen Knoten. Von dort aus wurden die Waren und Personen mit kleineren Fahrzeugen verteilt. In der Folge entwickelten sich produzierende Unternehmen eher bahnhofsnah. Industriestandorte waren auf einen Eisenbahnanschluss angewiesen. Die resultierenden städtischen Strukturen formten sich vergleichsweise dicht, da es viele Transporte zu Fuß oder mit Handkarren als Ladungsträger zu bewältigen galt und eine wirtschaftlich vertretbare Eisenbahnanbindung auf möglichst kurzer Route zum nächsten Logistik-Knoten erfolgen musste. Die produzierenden Strukturen folgten praktisch dem eingangs dargestellten energetischen Optimum für den Materialfluss.

Ein Fernstraßennetz gab es zu dieser Zeit praktisch nicht. Damit entfiel auch die Option, Güter ohne Nutzung der Eisenbahn-Logistik direkt zwischen Quelle und Senke zu transportieren. Heute sieht das anders aus. Millionen von kleinen und großen Fahrzeugen bewegen sich auf z. T. überlasteten Hauptverkehrsadern, nicht selten entstehen Staus. Fernstraßen wurden in den letzten Jahrzehnten darum immer weiter ausgebaut, während z. B. deutsche Eisenbahnnetze insbesondere im Güterverkehr so gut wie keine Erweiterungen erfuhren.

Der LKW – das FTS-Adäquat der globalen Logistik

Die durch LKW gegebene Möglichkeit, nahezu von jedem Ort große Ladungsträger aufzugeben und direkt zu emtpfangen, wurde immer intensiver genutzt. Durch Vorteile bei Flexibilität und Durchlaufzeit konnten produzierende Unternehmen energetische Nachteile gegenüber einem Eisenbahn-Logistikzug wirtschaftlich kompensieren. So lösten sich die kompakten industriellen Komplexe zugunsten weiter in den Regionen verteilter Produktionsstandorte. Kaum eine ländliche Gemeinde war noch ohne eigenes Gewerbegebiet. Leistungsfähige Zubringerstraßen gehörten meist dazu, denn große LKW mit Anhänger waren zu bewältigen.

Die Individualisierung der Verkehre führte auch in den Städten zu mehr Fahrzeugen. Selbst untergeordnete Straßen mussten immer breiter und leistungsfähiger ausgebaut werden. Zudem waren nicht immer alle Fahrzeuge im Einsatz, Park- und Pufferflächen wurden zunehmend knapp; der Wartungs- und Ersatzteilmarkt gewann an Bedeutung. Durch die Anforderungen massenhaft individueller Verkehrsmittel sind heute also nicht nur viele Flächen direkt gebunden, sondern auch indirekt.

Fazit

In der industriellen Produktion gilt Materialbewegung spätestens seit Womack, Jones und Roos „The Machine That Changed the World: The Story of Lean Production.“ zurecht als Verschwendung. Energetisch gesehen gilt das selbstredend. Schlanke Produktionen sind darum durch räumliche Kompaktheit und kurze Wege gekennzeichnet. Sie folgen damit eher dem Muster der Zentren industrieller Anfangszeit, die mittels Eisenbahn versorgt wurden. Übertragen auf die Fabrik ist die Eisenbahn durchaus als Routenzug-Adäquat zu sehen.

Heutige Routenzug-Lösungen begegnen dem Auslastungs- und Flexibilitätsproblem der Eisenbahn mit ausgeklügelten Systemen für Schlepper und Routenzug-Anhänger. Optimales Kurvenverhalten begrenzt den Platzbedarf. Ein Nachteil des Routenzugs ist sicher in der aufwändigen Planung der Intralogistik zu sehen. Denn schließlich muss das Routenzugsystem alle Verbrauchsorte just-in-time beliefern – eine professionelle Materialfluss-Planung ist dafür unabdingbar.

Wie entsteht ein Fabriklayout ohne Verschwendung?

Lesen Sie hierzu den Blogbeitrag:

Fabrikplanung – Wie vom Wertstrom zum Layout?

Variantenvergleich zur Robustheit eines Fabriklayouts mit integriertem Lager

Fahrerlose Transportsysteme stehen hingegen für enorme Flexibilität, ähnlich wie das Automobil. Wenige Exemplare sorgten anfangs für Begeisterung, in der Masse autonomer Fahrzeuge liegt jedoch ein Komplexitätsrisiko, verbunden mit tendenziell steigendem Platzbedarf für Transportwege. Zumindest also, wenn man die Entwicklung des Personen- und Güterverkehrs in Industrienationen zum Vergleich heranzieht, scheint das FTS trotz einfacher Integration im Industrie 4.0 Umfeld nicht als das Transportmittel geeignet, was Routenzugsysteme ersetzt. Vielmehr werden FTS dort ergänzen, wo Versorgungsanforderungen eher spontan enstehen.

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Thomas Weber
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